Natürlich kannte Thierry die Verfassung nicht auswendig und schon gar nicht in Gänze, geschweige denn, dass er außer dem für ihn relevanten Artikel 3 alles verstünde. Denn wie jedes Kind weiß: Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer herausfindet, wie die Verfassung des Empire Outremer genau funktioniert und wofür die einzelnen Verfassungsorgane da sind, dann wird sie auf der Stelle reformiert bzw. durch noch etwas Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt. Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist.
Aus diesem Grund liegt in seiner Schublade auch ein
Schaubild, bei dem er alles, was für ihn relevant sein könnte, markiert hat. Zum Glück hat er sich ein paar Sachen gemerkt, so dass ihm bewusst ist, dass nur ein Bonaparte oder ein Capet zum Prinzen von Geblüt werden könnte - zumindest nach derzeitigem Stand.
Innerlich verdrehte er die Augen. Sein Gegenüber hatte eine sehr nervige Eigenschaft - sie kam nicht zum Punkt. Wäre sie dabei besonders herzlich, freundlich oder gutaussehend, wäre das Ganze erträglicher.
"Artikel 3 unserer Verfassung ist mir wohlbekannt, ma chérie. Mir liegt bisher jedoch noch keine Information darüber vor, dass ein entsprechender Antrag in den Senat eingebracht worden wäre. Welcher Capet möchte denn Prinz vom Geblüt sein und warum möchten Sie mit mir darüber im Vorfeld sprechen?"
Und was noch viel wichtiger war: Warum kontaktierte ihn der Seneschall nicht vor dieser eingebildeten Kuh? Bei einer derart wichtigen Entscheidung war er der festen Überzeugung, dass Duroc seine Macht ausspielen würde, um sicherzugehen, dass er ja mit "Nein" stimmen würde. Schließlich würde ein weiterer Prinz von Geblüt dem Seneschall bei seinem Ziel der Alleinherrschaft unheimlich im Wege sein.
Die Anrede "ma chérie" war natürlich eine bewusste Provokation. Und dass es aktuell kein Bonaparte wagen würde, auch nur in Erwägung zu ziehen, zum Prince du Sang ernannt werden zu wollen, war für ihn offensichtlich.